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Cell Broadcast: Sinnvolle Ergänzung zur Alarmierung der Bevölkerung

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Im Ernstfall kann eine rechtzeitige öffentliche Warnung vor Extremereignissen Leben retten. Die Schweiz setzt dabei derzeit auf einen Mix aus Sirenen, Radio, Fernsehen und der Warnapp «Alertswiss». Da beinahe alle SchweizerInnen Mobiltelefone besitzen, könnte dieser Mix um Cell Broadcast ergänzt werden.


Cell Broadcast funktioniert ähnlich wie Radioübertragungen, nur mit Text statt Ton. Eine Textnachricht wird von einem Mobilfunkmast aus an alle Mobiltelefone gesendet, die sich in dessen Zelle befinden und die für den Empfang von Cell Broadcast Nachrichten konfiguriert sind. Der große Vorteil gegenüber SMS besteht darin, dass für Cell Broadcast nur genügend Bandbreite für eine einzige Nachricht benötigt wird, die vom Mobilfunkmast gleichzeitig an alle erreichbaren Mobiltelefone gesendet wird. SMS müssen hingegen an jedes Mobiltelefon einzeln versendet werden. Cell Broadcast ermöglicht es, Nachrichten innerhalb von Sekunden an Millionen Empfänger zu übertragen. Eine Cell Broadcast Nachricht ist in Seiten aufgeteilt. Eine Seite bietet Platz für 93 Zeichen Text und eine Nachricht kann bis zu 15 Seiten (= 1395 Zeichen) umfassen. Die Nachrichten werden direkt auf dem Startbildschirm angezeigt und – bei der höchsten Warnstufe – von einem speziellen Ton sowie Vibration begleitet, auch wenn das Mobiltelefon auf stumm geschaltet ist.

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) kam 2017 zu der Einschätzung, dass Cell Broadcast in der Schweiz aufgrund technischer, sozialer und rechtlicher Hürden nicht eingeführt werden sollte. Im Lichte aktueller Entwicklungen lohnt es sich nach unserer Ansicht, diese Einschätzung zu überdenken.

Cell Broadcast in der Schweiz neu bewerten

Die verheerenden Hochwasserereignisse im Juli 2021 in Deutschland haben eine intensive mediale Debatte über öffentliche Warnsysteme ausgelöst. Innerhalb dieser Debatte wurde der Ausgestaltung des deutschen Warnsystems zumindest eine Teilschuld an den mehr als 180 Todesopfern, welche die Flut in Deutschland forderte, zugeschrieben. Deutschland verfügt über kein flächendeckendes Sirenennetz mehr, hat aber ansonsten ein ähnliches System zur Alarmierung der Bevölkerung wie die Schweiz. Konkret setzt man dabei neben Sondermeldungen in lokalen Radio- und Fernsehsendern insbesondere auf Warnapps (NINA, KATWARN und BIWAPP). Die Niederlande hatten im Zuge derselben Hochwasserereignisse keine Todesfälle zu verzeichnen. Zur Warnung der Bevölkerung wurde dort das Cell Broadcast System NL-Alert eingesetzt. Auch wenn sich monokausale Erklärungen für die hohe Zahl an Todesopfern in Deutschland verbieten, führte diese Tatsache zu einer politischen Diskussion über die Einführung von Cell Broadcast in Deutschland. Sie resultierte in einer einstimmigen Entscheidung des Deutschen Bundestags zur Einführung von Cell Broadcast bis Ende 2022. Damit haben sich alle Nachbarländer der Schweiz ausser Liechtenstein dazu entschlossen, in Zukunft auf Cell Broadcast zu setzen.

Einige der Annahmen zu Cell Broadcast im Schweizer Bericht von 2017, treffen aus heutiger Sicht nur noch begrenzt zu. Konkret sind heute bereits mehr als 99 Prozent der Android-Geräte in Europa Cell Broadcast-fähig. Zudem ist es fraglich, ob NutzerInnen für die Aktivierung von Cell Broadcast auf einem Telefon wirklich externe Hilfe benötigen. Öffentliche Anleitungen dazu funktionieren in Ländern wie Litauen und Griechenland gut. Cell Broadcast ist auch in den aktuellen Mobilfunkstandards 4G und 5G enthalten. Es ist anzunehmen, dass dies auch bei künftigen Standards der Fall sein wird.

Vor- und Nachteile von Cell Broadcast gegenüber anderen Warnsystemen

In der Schweiz sieht das traditionelle System die Alarmierung der Bevölkerung mit Sirenen vor, gefolgt von Informationen über Radio und Fernsehen. Die Schweiz unterhält rund 5000 stationäre und 2200 mobile Sirenen. Zudem sind alle konzessionierten Radio- und Fernsehveranstalter dazu verpflichtet, dringliche polizeiliche Bekanntmachungen sowie behördliche Alarmmeldungen und Verhaltensanweisungen unverzüglich in ihr Programm aufzunehmen. Zur Absicherung unterhält der Staat ein Notfallnetz von Funksendern. Warnapps (Alertswiss), SMS und Cell Broadcast sind die drei mobiltelefonbasierten Systeme, die bei der letzten Evaluation in der Schweiz berücksichtigt wurden.

Vergleicht man die sechs wichtigsten, zur Verfügung stehenden Systeme – Sirenen, Radio, TV, Warnapps, SMS, und Cell Broadcast – so zeigen sich klare Vor- und Nachteile der einzelnen Systeme. Wir haben dazu drei Übersichtstabellen erstellt. Tabelle 1 bietet einen Vergleich der sechs Systeme in Bezug auf die Erreichbarkeit. Es zeigt sich, dass Warnapps, SMS und Cell Broadcast in Bezug auf die grundsätzliche Erreichbarkeit einen klaren Vorteil gegenüber den traditionellen Systemen haben, da ein grosser Teil der Bevölkerung immer ein Mobiltelefon bei sich hat. Das spricht dafür, mindestens eines dieser drei Systeme in den nationalen Mix an Warnsystemen aufzunehmen.

In Tabelle 2 werden die Systeme anhand weiterer Anforderungen an eine effektive Kommunikation bewertet. Für Cell Broadcast sprechen dabei im Vergleich zu Warnapps und SMS zwei Dinge. Es benötigt nur sehr wenig Bandbreite und kann deshalb auch in beeinträchtigten oder überlasteten Mobilfunknetzen schnell und zuverlässig eingesetzt werden (Staumanagement) und es bedarf keines Downloads einer Warnapp. Beinahe alle modernen Mobiltelefone sind prinzipiell dazu geeignet, Nachrichten per Cell Broadcast zu erhalten.

Tabelle 3 vergleicht die Systeme im Hinblick auf Datenschutz, Kosten und weiterer enthaltener Funktionen. Cell Broadcast ist im Vergleich zu Warnapps und SMS beispielsweise grundsätzlich datensparsam. Es werden keine Informationen über die Mobiltelefone innerhalb des Übertragungsbereichs benötigt oder gesammelt. Ein grosser Vorteil von Warnapps ist dagegen, dass ihr Inhalt nicht auf reine Warnmeldungen beschränkt ist und daher sehr viel umfangreicher sein kann. In manche Warnapps ist auch eine direkte Notruffunktion eingebettet, mit deren Hilfe den Notrufzentralen direkt der Standort der AnruferIn übermittelt wird.

In Situationen, die rasches Handeln erfordern, wie zum Beispiel Terroranschläge oder Sturmfluten, ist Cell Broadcast besonders hilfreich, wie wir bereits 2020 in der Analyse des Schweizer Krisenmanagements in der ersten Phase der COVID-19 Pandemie hervorgehoben haben. Genau vor diese Herausforderung sahen sich die Warnsysteme während der katastrophalen Hochwasserereignisse in Deutschland im Juli 2021 gestellt. Während Push-Benachrichtigungen in Warnapps ausgeschaltet werden können und auch SMS bei einem stummgeschalteten Mobiltelefon mutmasslich nicht wahrgenommen werden, sind Cell Broadcast Nachrichten der höchsten Warnstufe mit einem Warnton und Vibration verbunden, welche die benutzerdefinierten Telefoneinstellungen überschreiben.

Schweizer Warnsystem mit Cell Broadcast zukunftssicher aufstellen

In der Gesamtschau zeigt sich, dass die Einführung von Cell Broadcast als ergänzendes System zur Alarmierung der Schweizer Bevölkerung viele Vorteile mit sich brächte. Wir arbeiten derzeit an einer Evaluation der Stärken und Schwächen von Warnapps verschiedener Länder. Die Studie dazu wird voraussichtlich im Frühjahr 2022 erscheinen und zeigen, dass auch Warnapps wichtige Funktionen in einem nationalen Warnmix erfüllen können. Gleichzeitig hat die Evaluation bisher aber auch deutlich gezeigt, dass eine ergänzende Nutzung von Cell Broadcast sinnvoll sein kann, weshalb wir einen Beitrag zur Debatte innerhalb der Schweiz leisten möchten. Aus unserer Sicht bietet sich aktuell die Chance, aus den negativen und positiven Erfahrungen von Ländern wie Deutschland und den Niederlanden zu lernen und so das Schweizer System zur Alarmierung der Bevölkerung noch zukunftsfähiger auszugestalten.

Eine mögliche Einführung von Cell Broadcast würde dabei drei Schritte erfordern. Erstens müsste die Regierung eine Schnittstelle zur Weiterleitung von Nachrichten an die teilnehmenden Mobilfunkbetreiber zur Verfügung stellen. Zweitens müssten die Netzbetreiber die Cell Broadcast Funktionalität in ihren Netzen aktivieren. Der Staat könnte sie dazu per Gesetz oder durch eine vertragliche Vereinbarung verpflichten. Drittens müssten NutzerInnen von Mobiltelefonen dem Empfang von Cell Broadcast Nachrichten in den Telefoneinstellungen zustimmen, wobei der Staat auch eine standardmässige Aktivierung in neuverkauften Geräten vorgeben kann. So erreichen die Niederlande mit ihrem NL-Alert System aktuell über 90 Prozent der Bevölkerung. Im EU-Alert Standard kann der Nutzer sich jedoch weiterhin von allen Warnungen ausser der höchsten Warnstufe abmelden.

Die Umsetzung dieser Schritte nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Beispielsweise plant Deutschland nach der Entscheidung im Parlament vom September 2021 das System bis Ende 2022 einzuführen. Auch in der Schweiz ist zu erwarten, dass eine mögliche Einführung von Cell Broadcast mit einer Gesetzesänderung einhergehen müsste. Daher wäre es aus unserer Sicht jetzt die Zeit, die gesellschaftliche und politische Diskussion dazu voranzutreiben.


Über die Autoren

Kevin Kohler ist Researcher im Risiko und Resilienz-​Team am Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich.

Andrin Hauri ist Senior Researcher im Risiko und Resilienz-​Team am Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich.

Benjamin Scharte leitet das Risiko und Resilienz-​Team am Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich.

Für mehr Informationen zu Themen und Ereignissen, die unsere Welt bewegen, besuchen Sie die CSS Webseite.

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