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Richtig besser wissen – Lehren aus der Corona-Krise

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Dieser Blogbeitrag gehört zur Coronavirus-Blog-Reihe des CSS, die einen Teil des Forschungsprojektes zu den sicherheitspolitischen Implikationen der Corona-Krise bildet. Weitere Informationen finden Sie auf der CSS-Sonderthemenseite zur Corona-Krise.

Wenn das Resultat einer Situation bekannt ist, kann man zu falschen Schlüssen hinsichtlich der Handlungen der Beteiligten kommen. Einfach ausgedrückt: Es ist leicht, im Nachhinein alles besser zu wissen. Dieses Phänomen ist auch in der Debatte über den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie zu beobachten. Das führt aber in die Irre. Um die richtigen Lehren aus der Krise ziehen zu können, braucht es fehlerfreundliche Organisationskulturen. Ausserdem müssen Verantwortliche den Zielkonflikt zwischen Resilienz und Effizienz berücksichtigen und die Unterschiede zwischen Planung und Realität kennen.


Manche meinen, der Schweizer Bundesrat sei im Hinblick auf die Coronavirus-Pandemie unvorbereitet und überfordert gewesen. Entscheidungsträger müssen sich dieses Argument immer wieder anhören: Sie hätten vorab zu wenig in die Krisenprävention und Krisenbewältigung investiert. Aber es gab auch schon den umgekehrten Fall. Die durch ein Influenzavirus ausgelöste sogenannte Schweinegrippe-Pandemie in den Jahren 2009 und 2010 stellte sich im Nachhinein als weniger gefährlich heraus als ursprünglich befürchtet. Der Schweizer Bundesrat, der Impfstoffe für die gesamte Bevölkerung gekauft hatte – über 13 Millionen Dosen im Wert von 84 Millionen Franken – sah sich starker Kritik ob der hohen Kosten ausgesetzt, da die Impfdosen letztlich nicht benötigt wurden. Auch hier galt: im Nachhinein wusste man es besser und das schnelle Handeln der Regierung erschien wie übertriebene, unnötige Vorsorge.

Im Nachhinein besser wissen aus wissenschaftlicher Sicht

Für das im Nachhinein besser wissen gibt es in der Wissenschaft einen Fachbegriff. Das Phänomen wird als hindsight bias, im Deutschen «Rückschaufehler», bezeichnet. Dieser aus der Psychologie gut bekannte Effekt führt dazu, ex post bestimmte Situationen und Ereignisse auf unzulässige Weise zu vereinfachen und zu erklären. Aus der komfortablen Situation des Wissenden, der den Ausgang der jeweiligen Situation kennt, wird den Handelnden unterstellt, sie hätten Fehler begangen und aufgrund ihrer – vermeintlich unverständlichen – Entscheidungen sei es zu einem widrigen Ereignis gekommen. So wird Schuld zugewiesen, indem Entscheidungen aus ihrem situativen Kontext gelöst werden. Die inhärente Komplexität und Unsicherheit vieler Entscheidungssituationen löst sich bei Kenntnis ihres Ergebnisses auf.

Dieser Rückschaufehler wird auch in der aktuellen Krise begangen, sowohl von Laien als auch von Experten. Das geschieht zumeist unbewusst und ohne böswillige Absicht, da es dem menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit durch Erklärung entspricht. Dabei sind aber gerade in einer Pandemie die vorherrschende Komplexität und Unsicherheit so gross, dass Krisenmanager die Folgen ihrer Entscheidungen nicht sicher vorhersehen können.

Mit Schuldzuweisungen ist niemandem gedient

Wie lässt sich der Rückschaufehler vermeiden? Eine zentrale Annahme der organisationswissenschaftlichen Resilienzforschung besteht darin, dass Menschen in den allermeisten Fällen nicht absichtlich Fehler begehen: «People do not come to work to do a bad job.» Ihr Verhalten ist zumeist rational im situativen Kontext. Wenn dem so ist, muss es andere Gründe, muss es zugrundeliegende Strukturen und Mechanismen geben, die in spezifischen Entscheidungssituationen zu Handlungen führen, die sich später als Fehler herausstellen. Genau hier setzt die Resilienzforschung an. Sie versucht die Frage zu beantworten, welche Strukturen und Mechanismen Menschen dabei helfen, in Situationen, die von Komplexität und Unsicherheit gekennzeichnet sind, erfolgreich zu handeln und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Auch in der aktuellen Corona-Krise kann dieser Blickwinkel hilfreich sein, um Lehren für die Zukunft zu ziehen. Denn die Resilienzforschung zeigt eindeutig, dass die Angst davor, für Fehler bestraft zu werden, Menschen daran hindert, kreativ und flexibel zu handeln – was jedoch entscheidend ist, um sich in einer Krise als resilient zu erweisen. Daher ist eine gründliche Ursachenforschung angezeigt, und keine einfache Schuldzuweisung.

Eine fehlerfreundliche Organisationskultur etablieren

Hier lohnt es, auf drei zentrale Aspekte näher einzugehen. Erstens braucht es im Krisenmanagement eine fehlerfreundliche Organisationskultur. Tragischerweise können Fehler im Krisenmanagement Menschenleben gefährden. Sie werden aber nicht durch Schuldzuweisung und Bestrafung der Verantwortlichen vermieden, sondern vielmehr durch aktive, kooperative, konstruktive und vor allem gemeinsame Ursachensuche. Entscheidend ist das vorurteilsfreie Analysieren der Situation, in welcher der Fehler passiert ist – unter Berücksichtigung der geschilderten Tendenz von Menschen, dem Rückschaufehler zu unterliegen. Auf diese Weise können tatsächliche Ursachen, wie etwa ein organisatorisch bedingter, mangelnder Informationsfluss oder eine institutionell verankerte, ungeeignete Handlungsmaxime identifiziert und an ihrer Beseitigung gearbeitet werden. Der Mehrwert einer fehlerfreundlichen Organisationskultur ist in der Wissenschaft gut belegt.

Zielkonflikte zwischen Effizienz und Resilienz akzeptieren

Zweitens werden die betroffenen Gesellschaften angesichts der durch die Coronavirus-Pandemie ausgelösten Krise nicht umhinkommen, ihr Verhältnis zu Effizienz einerseits und Resilienz andererseits auf den Prüfstand zu stellen. Vieles von dem, was in der nun eingetretenen Lage als Versäumnis, Fehler oder unzureichende Vorsorgeplanung kritisiert wird, hat seine Ursachen weniger in der Unkenntnis über das Risiko einer möglicherweise eintretenden Pandemie. Vielmehr lässt sich der Mangel an zur Krisenbewältigung notwendigen Ressourcen mit einer – nicht notwendigerweise immer bewussten – Abwägung zugunsten möglichst effizienter Prozesse und Handlungsweisen erklären. Denn es besteht ein Zielkonflikt zwischen Effizienz und Resilienz. Dieser spielt in der Resilienzforschung eine wichtige Rolle. Bis heute ist nicht klar, wie, inwiefern und ob die beiden Prinzipien sich miteinander vereinen lassen.

Für Krisensituationen jedenfalls gilt: Gute Vorsorge ist möglich, sie ist aber nicht gratis zu haben. Es geht darum, bereits vor einer Krise, wenn deren Eintreten als sehr unwahrscheinlich erscheint und kaum vorstellbar ist, Ressourcen zur Vorsorge aufzuwenden, die dann nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung stehen. Diese «Opfer» sind in einer effizienzgetriebenen Welt aufgrund der Unsicherheit des Eintretens widriger Ereignisse meist schwer zu vermitteln. Der grundsätzliche Zielkonflikt zwischen Effizienz und Resilienz sollte bei der Aufgabe, Lehren aus der Coronavirus-Pandemie zu ziehen, immer mitbeachtet werden.

Unterschiede zwischen Planung und Realität kennen

Drittens hilft der Blick auf den aus der Resilienzforschung bekannten, komplexen Systemen inhärenten Unterschied zwischen Planung und Realität. Das kann explizit als Gegenbewegung zur derzeit oft bemühten compliance culture verstanden werden. Der Begriff compliance lässt sich als Regeltreue oder noch passender Regelkonformität übersetzen. Die Idee dahinter ist, dass Regeltreue zu Erfolg führt und Fehler sich auf ein Abweichen vom Plan zurückführen lassen. Aus Sicht der Resilienzforschung sind dagegen Flexibilität, Kreativität und Improvisationsfähigkeit entscheidend für erfolgreiche Krisenbewältigung. Ein Festhalten an starren, vor der Krise entstandenen Plänen kann sogar schädlich sein.

Deshalb sollte bereits im Prozess der Planung Wert auf Flexibilität gelegt werden, wie es etwa im Pandemieplan der Schweiz zumindest teilweise der Fall ist. Die Resilienzforschung zeigt, dass bestimmte Systemprinzipien dazu beitragen können, Flexibilität zu ermöglichen und zu fördern. Dazu zählen Diversität, Modularität und Dezentralität, aber auch Redundanz. Daher scheint es sinnvoll, in der Analyse der Coronavirus-Pandemie verstärkt darauf zu achten, wo Systeme des Krisenmanagements solchen Prinzipien entsprochen haben und wo diese in Zukunft vielleicht verstärkt zum Einsatz kommen könnten.

Richtig aus der Krise lernen statt nach Schuldigen suchen

Die Coronavirus-Pandemie stellt ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht eine Zäsur dar. Das gilt sicher für die Bereiche der Krisenprävention und Krisenbewältigung. Um vorschnelle Schlüsse und eine unzulässig vereinfachende Analyse der komplexen Krisensituation zu vermeiden, bietet sich der Blick auf Erkenntnisse aus der Resilienzforschung an. Diese können dabei helfen, die richtigen Lehren zu ziehen. Dazu sollten einige Punkte besonders beachtet werden. Der Rückschaufehler sollte vermieden, zumindest aber adressiert werden. Eine fehlerfreundliche Organisationskultur ermöglicht faire, transparente und konstruktive Ursachenforschung und sollte daher angestrebt werden. Der Zielkonflikt zwischen Effizienz und Resilienz ist evident und sollte gesellschaftlich expliziter ausgehandelt werden. Und der Unterschied zwischen Planung und Realität sollte in Planungsprozessen besser verstanden werden. All das ist nötig, um richtig besser wissen zu können.

Das CSS untersucht in den nächsten zwei Jahren im Rahmen von zwei Forschungsprojekten die mittel- und langfristen Folgen der Corona-Pandemie. Im Vordergrund stehen dabei das nationale und internationale Krisenmanagement sowie die Auswirkungen der Krise auf die internationalen Beziehungen und die nationale und internationale Sicherheitspolitik. Mehr dazu finden Sie auf der Sonderthemenseite des CSS zur Corona-Krise.


Autor

Benjamin Scharte leitet das Risiko und Resilienz- Team am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich.

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