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Die Schweiz hat mit einer anderen Pandemie gerechnet, aber flexibel geplant

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Bild: © Bundesamt für Gesundheit (BAG)

Dieser Blogbeitrag gehört zur Coronavirus-Blog-Reihe des CSS, die einen Teil des Forschungsprojektes zu den sicherheitspolitischen Implikationen der Corona-Krise bildet. Weitere Informationen finden Sie auf der CSS-Sonderthemenseite zur Corona-Krise.

Der Pandemieplan der Schweiz fokussiert auf Influenzaviren. Wie nützlich ist das in einer Corona-Pandemie? Hat die Schweiz für den falschen Fall geplant? Die Antwort ist ja – und nein. Viele Checklisten und Tabellen des Influenza-Pandemieplans lassen sich in der Corona-Pandemie nur bedingt nutzen. Gleichzeitig ist der Plan aber von der Idee der «systemischen Flexibilität» durchdrungen. Weil eine Pandemie nie so stattfindet, wie im Szenario durchgespielt, müssen sich die Schweiz und ihr Gesundheitssystem anpassungsfähig zeigen.


Der Wert guter Planung

In der Schweiz hat man sich bereits seit langer Zeit mit Pandemien als einem der grössten Risiken auseinandergesetzt. Deshalb gibt es mit dem Epidemiegesetz von 2012 eine konkrete gesetzliche Grundlage zum Umgang damit. Und mit dem regelmässig aktualisierten Pandemieplan, herausgegeben vom Bundesamt für Gesundheit, wurde eine Sammlung der Strategien und Massnahmen zur Vorbereitung auf und Bewältigung von Pandemien bereitgestellt. Diesem Pandemieplan ist ein Zitat vorangestellt, das Benjamin Franklin zugeschrieben wird: «If you fail to plan, you are planning to fail.» Bei einer Pandemie bedeutet to fail (Scheitern) mutmasslich den Tod vieler Menschen.

Entscheidend ist nicht die Frage danach, ob überhaupt geplant werden soll – darüber besteht Einigkeit. Wegweisend sind vielmehr zwei andere Aspekte, nämlich wofür und wie geplant wird. Der Pandemieplan der Schweiz ist explizit ein «Influenza-Pandemieplan». Er rückt ein Szenario in den Mittelpunkt, in dem ein leicht von Mensch zu Mensch übertragbares Influenzavirus ursächlich ist. Das war naheliegend, ist doch die Schweiz – wie viele andere Länder auch – in jedem Jahr von mehr oder weniger starken Influenza-Ausbrüchen betroffen.

Die Pandemie, die aktuell unsere Welt in Atem hält, wurde aber durch ein neuartiges Coronavirus, SARS-CoV-2, ausgelöst. Dieses weist sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu Influenzaviren auf, wie eine Übersicht der Johns Hopkins University zeigt. Unterschiede bestehen vor allem darin, dass es aktuell keine Impfstoffe gibt und dass die Mortalitätsrate höher zu sein scheint, als bei den meisten Influenzaviren. Hat die Schweiz also für die falsche Pandemie geplant?

Der beste Plan überlebt den ersten Feindkontakt nicht

Die Antwort auf diese Frage ist: ja und nein. Das wird beim näheren Blick auf die aktuelle Ausgabe des Influenza-Pandemieplans Schweiz deutlich. Darin sind zunächst die Planungsgrundlagen interessant. Sie finden sich sehr prominent am Beginn des Dokuments.

Wiederholt wird im Text auf die inhärente Unsicherheit verwiesen, die mit Pandemien verbunden ist. So ist es weder möglich vorauszusagen, wann und wo eine Pandemie entsteht, noch wie schwer sie verlaufen wird – oder durch welche Art Viren (bzw. Krankheitserreger an sich) sie verursacht wird. Die Unsicherheit bezüglich der konkreten Eigenschaften der Krankheitserreger führt auch dazu, dass die Wirksamkeit von Gegenmassnahmen a priori nicht sicher bestimmbar ist.

Deshalb fokussieren die Planungsgrundlagen des Influenza-Pandemieplans sehr stark auf eine grundsätzliche Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, die in Krisensituationen benötigt wird, um mit Unsicherheiten und unerwarteten Entwicklungen umgehen zu können. Vorbereitung heisst dann neben der Erarbeitung konkreter Massnahmen auch immer, eine möglicherweise notwendige Änderung der Massnahmen im Krisenfall zu antizipieren.

In den Planungsgrundlagen ist von «systemischer Flexibilität» und von einer «Flexibilitätsmentalität» die Rede (Pandemieplan, Seite 9 ). Diese Flexibilitätsmentalität findet sich auch an vielen, konkreteren Stellen des Influenza-Pandemieplans wider. Das wird zum Beispiel beim Thema Kommunikation deutlich. Botschaften, Ziele und Herausforderungen von Risiko- und Krisenkommunikation werden generell übergreifend definiert – sie können auch über spezifische Influenza-Pandemien hinaus Gültigkeit beanspruchen. Auch der zentrale Aspekt der ethischen Fragen, bei denen es um Probleme mit der Verteilung knapper Mittel zur Prävention und Behandlung geht, ist übertragbar auf andere Szenarien als das einer Influenza-Pandemie.

Insgesamt kann die Flexibilitätsmentalität durchaus so interpretiert werden, dass die Schweiz nicht für die falsche Pandemie geplant hat, weil sie grundsätzlich für jede Art von Pandemie plant.

Checklisten und Tabellen sind notwendig, aber problematisch

Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite findet sich ein grösserer Teil der spezifischen Ausgestaltung des Influenza-Pandemieplans in Form von Tabellen und Checklisten, die sich relativ stark auf das konkrete Szenario einer Influenza-Pandemie beziehen und nicht auf jede Art von Pandemie übertragen werden können.

Hier wird die Krux jeder Planung in komplexen Systemen, die mit Unsicherheit zu kämpfen haben, deutlich. Zurecht wird im Pandemieplan darauf hingewiesen, dass zur Evaluierung erforderlicher Ressourcen und Kapazitäten, «gewisse Annahmen bezüglich der Epidemiologie eines künftigen Pandemievirus gemacht werden» müssen (Pandemieplan, Seite 100). Für die konkrete Planung sollen laut Pandemieplan möglichst realistische Annahmen getroffen werden. Auf diesen Annahmen beruhen dann im nächsten Schritt die Empfehlungen zu Ressourcen und Kapazitäten, die vorgehalten beziehungsweise aufgebaut werden sollen, um eine Pandemie bewältigen zu können. Oder präziser gesagt: um genau diese Pandemie bewältigen zu können.

In der aktuellen, durch ein Coronavirus ausgelösten Pandemie treffen viele der von den Planern gemachten Annahmen nicht zu. Und das wiederum führt dazu, dass die Planungen an einigen Stellen an der tatsächlichen Situation vorbeigehen. Als Beispiel sei nur auf die unter dem Stichwort «Absentismus» zusammengefassten wirtschaftlichen Auswirkungen verwiesen, die sich teilweise um Grössenordnungen von dem unterscheiden, was aktuell tatsächlich passiert. Oder auch auf das Thema Schutzmasken, bei dem sich die vorgeschlagene Lagerhaltung in medizinischen Einrichtungen als unzureichend erwiesen hat.

Menschen tendieren dazu, sich in Plänen auf Checklisten und Tabellen zu fokussieren. Diese ermöglichen ein wortwörtliches Abhaken von Aufgaben, häufig verbunden mit der Vorstellung: Checkliste abgehakt, Risiko erfolgreich gemanagt. Die in den Planungsgrundlagen geforderte Flexibilitätsmentalität kann dabei leicht auf der Strecke bleiben.

Unter Beachtung dieser Tendenzen liesse sich mit Blick auf die konkreten Checklisten und Tabellen, die zur Vorbereitung auf und Bewältigung einer bestimmten Influenza-Pandemie gedacht sind, also durchaus behaupten, dass die Schweiz für die falsche Pandemie geplant hat.

Systemische Flexibilität heisst, in der Krise genügend Ressourcen und Zeit zu haben

Aber das war zu erwarten. Das ist – wie gesagt – eine grundsätzliche Herausforderung der Planung für ein derart komplexes Geschehen. Es ist schwer, Flexibilität in konkrete Planungen zu fassen. Gerade wenn es um Ressourcen und Kapazitäten geht. Wie könnte das künftig aussehen? In der Forschung spricht man von sogenannten «losen Ressourcen» (unallocated resources), die einem System Flexibilität ermöglichen. Also Ressourcen, die im Normalfall – oder besser im Szenario, das der Planung zugrunde liegt – nicht benötigt werden.

Auf den Pandemieplan übertragen könnte das beispielsweise bedeuten, jeden konkreten Vorschlag zur Bevorratung um eine Sicherheitsmarge aufzustocken, die im Krisenfall die benötigte Zeit verschafft, alternative Lösungen umzusetzen. Diese könnten etwa in der Auslösung bereits vor der Krise geschlossener Verträge zur Lieferung zusätzlicher medizinischer Produkte bestehen. Mein Kollege Andrin Hauri wird im Rahmen des CSS Blog in einem der nächsten Blogs anhand des Beispiels der Schutzmasken aufzeigen, wie die Vorbereitung geplant und umgesetzt wurde und wo es in Zukunft Verbesserungsspielraum gäbe.

Im Anschluss an die aktuelle Krisensituation wird der Pandemieplan der Schweiz sicher grundlegend überarbeitet und es steht zu erwarten, dass er nicht mehr nur primär das Szenario einer Influenzapandemie adressieren wird. Gleichzeitig ist es eminent wichtig, seinen generischen Charakter weiter auszubauen und die postulierte Flexibilitätsmentalität zu stärken. So kann der Pandemieplan der Schweiz noch mehr zu einem Plan werden, der dabei hilft, in einer Krisensituation schnell und kreativ nachsteuern zu können. Eben einem Plan für systemische Flexibilität.

Das CSS untersucht in den nächsten zwei Jahren im Rahmen von zwei Forschungsprojekten die mittel- und langfristen Folgen der Corona-Pandemie. Im Vordergrund stehen dabei das nationale und internationale Krisenmanagement sowie die Auswirkungen der Krise auf die internationalen Beziehungen und die nationale und internationale Sicherheitspolitik. Mehr dazu finden Sie auf der Sonderthemenseite des CSS zur Corona-Krise.


Autor

Benjamin Scharte leitet das Risiko und Resilienz- Team am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich.

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