Bild: © VBS. Philipp Schmidli. CC BY-NC-ND 3.0 CH
Dieser Blogbeitrag gehört zur Coronavirus-Blog-Reihe des CSS, die einen Teil des Forschungsprojektes zu den sicherheitspolitischen Implikationen der Corona-Krise bildet. Weitere Informationen finden Sie auf der CSS-Sonderthemenseite zur Corona-Krise.
Im aktuellen Verlauf der Corona-Krise zeichnen sich ambivalente Auswirkungen auf die Militärpolitik der europäischen Staaten ab. Einerseits drohen einbrechende Wehretats und zusätzliche Erwartungen im Hinblick auf subsidiäre Einsätze. Anderseits birgt dieses Fundamentalereignis auch die Chance, die politisch-gesellschaftliche Verankerung der Streitkräfte zu festigen – vorausgesetzt, in seiner Aufarbeitung gelingt die Abstraktion von der «Pandemie» zum allgemeineren «Krisenfall» und von der «Landesverteidigung» zur umfassenderen «strategischen Krisenversicherung».
Die Streitkräfte der meisten europäischen Staaten stehen seit Ende des Kalten Krieges unter starkem Legitimations- und Budgetdruck. Zuletzt mehrten sich jedoch die Anzeichen einer Überwindung dieses Schwebezustandes. Der 2014 ausgebrochene Ukraine-Konflikt sowie Zweifel an der Tragfähigkeit der NATO-Beistandsverpflichtungen – genährt durch Aussagen von US-Präsident Trump – rückten ins Bewusstsein, dass die militärische Konfrontationslogik auch auf dem Kontinent nicht überwunden ist und robuste eigene Abwehrdispositive verlangt. Allenthalben vernahm man seitdem Bekenntnisse zur Erhöhung nationaler Militärbudgets sowie zur Stärkung konventioneller Fähigkeiten – neuerdings auch im institutionellen Rahmen der EU.
Die Corona-Krise hat das Potenzial, diese Ansätze materieller und konzeptueller Rekonsolidierung im Keim zu ersticken. Gleichzeitig, als Fanal zur umfassenden Stärkung staatlicher Krisenvorsorge, stellt sie eine Chance dar, die politisch-gesellschaftliche Verankerung der Streitkräfte zu festigen. Die Gewichtung dieser gegenläufigen Aspekte wird wohl stark länderspezifisch sein und dabei weniger von einer vermeintlich normativen Kraft des Faktischen als von subjektiven Interpretationsmustern und Prioritätensetzungen abhängen.
Die Herausforderung: Verteilungskonflikte und Richtungskämpfe
Das zentrale Problem der Streitkräfte «post-Corona» werden sinkende Staatshaushalte und daraus resultierende Verteilungskonflikte zwischen den Ressorts sein. In der wirtschaftlichen Flaute spart der Staat – insbesondere der freiheitlich-demokratische – meist zuerst beim Militär. Wie zuvor in der Grossen Depression 1929 und der Ölkrise 1973 zeigte sich dies zuletzt im Nachgang der Finanzkrise 2008/9. In Europa brachen die Verteidigungsetats ein; in Nordamerika und Ozeanien stagnierten sie. Im Mittleren Osten und in Ostasien wiederum stiegen sie teils signifikant. Der Budgetdruck verschärfte das globale Gefälle staatlicher Prioritäten und beschleunigte so die geopolitische Gewichtsverschiebung insbesondere zugunsten Chinas.
Die Tragweite dieser Entwicklung für die sogenannte «liberale Weltordnung» tritt in der Corona-Krise offen zutage. Die Europäer haben erkannt, dass dieses auf Transparenz und Kooperationsbereitschaft fussende Modell auch in der eigenen Komfortzone globaler Institutionen und auf dem Kontinent selbst zunehmend unter Druck gerät. Auch in ihrer Wahrnehmung gewinnt «Hard Power» wieder an Bedeutung. Ungeachtet dieser Einsicht wird der fiskalische Druck auf europäische Entscheidungsträger stark sein, abermals in strategischen Bereichen den Rotstift anzusetzen.
Unabhängig vom zu erwartenden Spardruck – aber durch diesen verschärft – wird die Corona-Krise auch armeeinterne Verteilungskonflikte nach sich ziehen. Bereits innerhalb des Kernbereichs «klassisch» militärischer Einsatzprofile besteht ein Konflikt zwischen Territorial- bzw. Bündnisverteidigung einerseits und Expeditionseinsätzen andererseits. Entsprechende Fähigkeiten sind teils sehr spezifisch und für subsidiäre Einsätze – wiederum zu unterteilen in bewaffneten Ordnungsdienst (Polizei, Grenzschutz) und Katastrophenhilfe (Sanität, Zivilschutz) – mal mehr, mal weniger nützlich. Wie stark die Streitkräfte durch eine künftig anzunehmende Betonung subsidiärer Einsatzbilder herausgefordert sein werden, wird somit nicht nur von ihrer Finanzlage, sondern ebenso ihrer konzeptuellen und organisatorischen Einbettung beeinflusst.
- In den Berufsarmeen Deutschlands und Grossbritanniens ist der subsidiäre Einsatz und die dafür erforderliche Verzahnung mit zivilen Sicherheitsorganen bisher wenig eingespielt, jedoch wird dies derzeit schrittweise korrigiert. Grossbritannien scheint hinsichtlich «klassisch» militärischer Einsatzszenarien den Expeditionseinsatz über die Territorialverteidigung und hinsichtlich subsidiärer Einsätze den Ordnungsdienst über die Katastrophenhilfe zu stellen. In Deutschland, wo die Verfassung bewaffnete Inlandeinsätze des Militärs nur in ausserordentlichen Situationen zulässt, sind diesbezüglich bisher keine klaren Schwerpunkte erkennbar.
- Die ebenfalls professionalisierten Streitkräfte Italiens und Frankreichs legen den Schwerpunkt auf Expeditionseinsätze; die Überschneidungsflächen mit subsidiären Einsatzbildern sind eher klein. Im Nebeneinander militärischer und ziviler Sicherheitsorgane üben paramilitärische Polizeiorganisationen wie die Carabinieri oder die Gendarmerie Nationale jedoch eine Scharnierfunktion für die inzwischen alltägliche Praxis des Ordnungsdienstes (Operation Strade Sicure bzw. Sentinelle) aus. Eine ähnliche Rolle hinsichtlich der Katastrophenhilfe spielt der insbesondere in Italien krisenerprobte Zivilschutz.
- Die Schweiz, Österreich und viele nord- und osteuropäische Staaten fokussieren auf Territorial- bzw. Bündnisverteidigung, welche sie oftmals in einem umfassenden Sinne – also als Gesamtverteidigung – verstehen. Sie halten an der Wehrpflicht fest, haben sie wiedereingeführt oder ergänzen den professionellen Kern der Streitkräfte durch relativ grosse Reserve-/Milizformationen. Die konzeptuelle wie personelle Überlappung ziviler und militärischer Sphären in einem relativ kompakten Planungsrahmen begünstigt den subsidiären Einsatz der Streitkräfte insgesamt.
Diese Typisierung impliziert nicht, dass die Aufarbeitung der Corona-Krise hier krisenbehaftet und dort harmonisch ablaufen wird. Sie ist jedoch ein Indikator dafür, wie tiefgreifend die nun zu erwartenden Richtungsdebatten und allfälligen strukturellen Anpassungen sein werden. Wer ein möglichst breites Spektrum «klassisch» militärischer und subsidiärer Einsatzprofile anstrebte – und sich darin meist schon unter Schönwetterbedingungen überfordert sah – wird nun mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einer klareren Prioritätensetzung auf konzeptueller wie organisatorischer Ebene gezwungen sein. Wer wiederum nach innen gerichtete Gesamtverteidigungsmodelle betonte, wird sich in diesen wohl insgesamt bestärkt sehen und sich auf die Feinjustierung bereits vorhandener Fähigkeiten beschränken.
Die Chance: Die Renaissance des Risikobewusstseins
Krisenerfahrungen schärfen den Blick für das Wesentliche und Tragfähige. Für die Streitkräfte der europäischen Staaten birgt die Corona-Krise folglich nicht nur Herausforderungen, sondern gleichzeitig auch die Chance ihrer elementaren politisch-gesellschaftlichen Wiederverankerung. Zentral steht hier eine vierfache Botschaft, welcher sich die Öffentlichkeit kaum mehr entziehen kann – vorausgesetzt, in der nun einsetzenden Debatte gelingt der Spagat zwischen Abstraktion und Differenzierung.
Erstens: Krisenvorsorge tut Not. Die aktuelle Pandemielage – als Szenario lange bekannt, aber in ihrer Tragweite bis zum letzten Moment verdrängt – offenbart auf drastische Weise die Verletzlichkeit einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, welche Krisenfestigkeit und Anpassungsfähigkeit weitgehend der kurzfristigen Effizienzmaximierung unterordnet und aus welcher sich der Staat als Verantwortungsträger und Gestalter teilweise zurückgezogen hat. Im Gesamtspektrum öffentlicher wie privater Institutionen gehören die Streitkräfte zu den wenigen Akteuren, die sich dieser Rationalisierungstendenz bisher zumindest teilweise widersetzen konnten. In ihrer so erhaltenen Eigenschaft als strategische Reserve mit hohem Verfügbarkeits- und Flexibilitätsgrad spielen sie aktuell eine Schlüsselrolle.
Zweitens: Krisenvorsorge ist nicht billig, rechnet sich jedoch im Ernstfall allemal. Man muss akzeptieren, dass hier die kurzfristig orientierte privatwirtschaftliche Marktlogik nicht universell greift. 2005 stellte die Schweizer Armee die eigenständige Sauerstoffproduktion ein, 2012 die Bundeswehrapotheke grosse Teile ihrer Arzneimittelproduktion und 2013 liess die französische Regierung Millionen von Schutzmasken vernichten. Aus Effizienzerwägungen wurde die Versorgung mit diesen kritischen Gütern dem «unsichtbaren Dritten» überlassen. Angesichts der in diesen Wochen vernichteten Werte – gesundheitlich wie wirtschaftlich –– wirken die damals gesparten Beträge geradezu lächerlich.
Drittens: Der Krisenfall beschränkt sich nicht auf Pandemielagen. Bereits jetzt wird die Corona-Krise nicht mehr primär als Gesundheitskrise wahrgenommen. Ihre wirtschaftlichen und diplomatischen Folgeschäden werden mit grosser Wahrscheinlichkeit als Katalysator für zahlreiche regionale und globale Konfliktpotenziale wirken. Was heute Schutzmasken, Impfstoffe und Medizinalgas-Reserven sind, können morgen Aufklärungs- und Führungssysteme zur Koordinierung von Polizei und Armee in einem Terrorereignis sein – oder eben die Mittel zum robusten Schutz der Landesgrenzen und des Luftraumes.
Viertens: Die Verantwortung zur Krisenvorsorge trägt zunächst der einzelne Staat selbst. Internationale Zusammenarbeit und Solidarität sind eine Ergänzung, aber kein Ersatz nationaler Schutzmassnahmen. Zahlreiche Staaten und kleinere Gebietskörperschaften sahen sich in der Corona-Krise temporär auf sich allein gestellt. Diese fundamentale Erfahrung stärkte vielerorts den Rückhalt für die Streitkräfte – nicht nur hinsichtlich ihres spezifischen Beitrages in Ordnungsdienst und Katastrophenhilfe, sondern auch hinsichtlich ihrer symbolischen Bedeutung: Als lokal wie national verankerte Sicherheitsinstitution, auf die man sich im Krisenfall verlassen kann.
Ausblick
Die Folgen der Corona-Krise für die Streitkräfte der europäischen Staaten sind keineswegs ausgemacht. Sie hängen nicht nur davon ab, wie stark die Lageveränderung die nationalen Entscheidungsträger fiskalisch einschränkt. Ebenso wichtig ist die Frage, von welchen Prioritäten sie sich in ihren Reaktionen leiten lassen: Die Wiederverankerung umfassender Krisenvorsorge als staatliche Kernaufgabe «irgendwann später» oder «jetzt erst recht»? Sollten sie sich für letztere Option entscheiden, hätten sie zum ersten Mal seit langem die Chance, sich dabei auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens abzustützen.
Eine solche Weichenstellung würde nicht nur nationalen Streitkräften, sondern als «Bottom-up-Dynamik» mittelbar auch NATO und EU zugutekommen. Teils realitätsferne Strategiedebatten und Kompetenzstreitigkeiten haben zu lange davon abgelenkt, dass diese Institutionen nur dann funktionieren können, wenn ihre Mitglieder sich zunächst nach eigener Notwendigkeit und Möglichkeit individuell befähigen und manche dieser Fähigkeiten dann in den Allianzrahmen einbringen. Sollten europäische Regierungen hier wieder ambitionierter – und dabei pragmatischer – vorgehen, würden dabei nicht nur die Schwächen, sondern auch die spezifischen Stärken und Synergiepotenziale dieser Sicherheitskollektive klarer zutage treten.
Das CSS untersucht in den nächsten zwei Jahren im Rahmen von zwei Forschungsprojekten die mittel- und langfristen Folgen der Corona-Pandemie. Im Vordergrund stehen dabei das nationale und internationale Krisenmanagement sowie die Auswirkungen der Krise auf die internationalen Beziehungen und die nationale und internationale Sicherheitspolitik. Mehr dazu finden Sie auf der Sonderthemenseite des CSS zur Corona-Krise.
Autor
Amos Dossi ist Forscher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Seine Forschungsinteressen liegen in den Innovationsdynamiken konventioneller Militärtechnologie.
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